'Wohin des Weges, Sonnenkönig?' im Kunstraum Aarau

Prolog
"Was willst du mal werden, wenn du gross bist?" Wissen Sie noch, was Sie damals geantwortet haben? Und wer sind Sie heute geworden? Haben Sie ihre Ziele immer erreicht und wissen Sie genau, was die Zukunft bringt? Wohl kaum. Wahrscheinlich nimmt Ihr Weg auch mal jähe Wendungen und erfordert Entscheidungen, die womöglich zu besseren Resultaten führen, als sie je hätten planen können. Oft zeigen sich diese aber erst, wenn der neue Weg schon eingeschlagen ist. Warum? Wahrscheinlich weil an dem Zitat des spanischen Lyrikers Antonio Machado (1875–1939) was dran ist. Dieser schrieb Mitte des 19. Jahrhunderts die Gedichtzeile: "Wanderer, es gibt keinen Weg. Der Weg entsteht im Gehen."

Doch was hat dies nun mit Roman Sonderegger (*1979) und dieser Ausstellung zu tun? Ich wage zu behaupten, dass Roman, den ich als äusserst selbstreflektierten Künstler kennengelernt habe, die Botschaft dieses Zitats verinnerlicht hat. Sein Weg entsteht im Gehen – und darauf lässt er sich ein, wenngleich gerade als Künstler eine Menge Ungewissheit auszuhalten ist. Ungewissheit und Risiko scheinen in seinen skulpturalen Installationen jedoch Programm zu sein. So weiss der Künstler oft erst beim eigentlichen Aufbau vor Ort, ob eine skizzierte, berechnete oder im Atelier als Modell erprobte Installation in situ wirklich funktioniert. Nicht selten nämlich werden Schaltafeln, Dachlatten, Bachsteine u. ä. einzig durch Schwerpunkt und Eigengewicht in Balance gehalten, werden zwischen Decke und Boden eingeklemmt oder durch wenige Spannsets und Schnüre zusammengehalten. Ja, seine Werke bedingen den Raum, loten ihn aus, ertasten dessen Begrenzungen und reiben sich an ihm. Und so wird der Erfahrungsrucksack des Künstlers mit jeder Werkrealisierung immer schwerer und die gewonnen Erkenntnisse können in die neuen Arbeiten einfliessen. Der Weg entsteht eben im Gehen.

Als Kind wollte Roman Sonderegger Erfinder für neue Lego-Modelle werden. Geworden ist er schliesslich Steinmetz und Bildhauer. 2010 entschied er sich dazu, Künstler zu sein. Er absolvierte das Propädeutikum an der Schule für Gestaltung Aargau und studierte Kunst & Vermittlung an der Hochschule Luzern | Design & Kunst. Heute geniesst er die Freiheit, als Künstler das Arbeitstempo, die Themenwahl und Gestaltung seiner Werke selbst bestimmen zu können. Dennoch weiss er auch um die Crux, die genau darin liegt, immer selbst entscheiden zu müssen, ob etwas gut, fertig, rentabel ist, oder ob es Zeit ist, etwas Neues auszuprobieren. Deshalb ist er froh, dass ihm die Arbeitsweise vertraut ist, von früh bis spät zu arbeiten, ungeachtet dessen, ob man an dem Tag über Antrieb oder Inspiration verfügt, oder gar zu einem Resultat kommt. Das Dranbleiben zahlt sich aus. So weiss er, dass ihm nicht selten nach einem harzigen Tag im Atelier die zündende Idee auf dem Heimweg oder unter der Dusche zufällt. In diesem Sinne sei die Arbeit als Künstler nie wirklich zu Ende, sie sei aber auch nie einfach "nur" Arbeit – vielmehr Teil des vollen Lebens.

Wohin des Weges, Sonnenkönig, 2020
Vor einem Jahr stand Roman Sonderegger an einer dieser vielbesagten Wendestellen. Er fragte sich, wie es mit seiner Kunst weitergehen sollte. Geradezu metaphorisch für dieses Frage-Antwort-Spiel entstand die Arbeit mit dem Titel Wohin des Weges, Sonnenkönig? (2020): Als Betrachtende durchschreiten wir dabei einen trichterförmig zulaufenden Korridor. Schuppengleich bilden aneinandergereihte Kartons dessen Fronten. In der Flucht ist ein Spiegel angebracht, in dem wir uns als Besucher*innen mit unserem ganzen Verhalten spiegeln und durch den wir auf uns selbst zurückgeworfen werden. Vorne angekommen, müssen wir uns entscheiden. Gehen wir nach links oder rechts? In zwei Kehrtwendungen gelangen wir hinter die Fassade und den Raum dahinter.

Inspiriert wurde das Werk durch die barocke Kaisertreppe, wie sie zum Beispiel in der Würzburger Residenz vorzufinden ist. Diese beginnt mit einem zentralen Lauf, der sich nach einem Zwischenboden in zwei Treppenarme teilt und rückläufig ins Obergeschoss führt. Auf ihr reihte sich bei zeremoniellen Anlässen der gesamte Hofstaat auf. Zugleich konnte der Herrscher seine Besucher*innen von oben herab beim Aufstieg beobachten und sich ein Bild über deren Gemütsverfassung machen. Das Wissen um deren Zögern oder Entscheidungsfreudigkeit verschaffte ihm einen strategischen Vorteil bei den nachfolgenden Verhandlungen.

Die ganze Theatralik und Scheinarchitektur der Barockzeit, in der man Marmor mittels bemaltem Gips imitierte und durch Blendfassaden falschen Prunk vortäuschte, reizte den Künstler. Der Akt, mit günstigen Kartons eine wertige Balustrade vorzugeben und eine bühnengleiche Kulisse zu inszenieren, bedeutete für ihn aber auch, sein gewohntes Terrain zu verlassen. So mag sich der Künstler bei seiner Standortbestimmung gefragt haben, was denn einen "wahren Sonderegger" ausmacht. Ein Blick hinter die Pappwand macht dies deutlich. Anders als bei einer Theaterkulisse, die rückseitig keinen ästhetischen Kriterien genügen muss, wird hier in Sonderegg'scher Manier nichts versteckt, alles gezeigt, die Technik nachvollziehbar gemacht. Zu sehen ist ein sauberes, regelmässiges, präsentables Holzgerüst, bei dem die senkrechten Latten nicht verschraubt, sondern nur eingepasst sind. Ja, hier scheint die alte Bildhauerambition zum Vorschein zu kommen. Ganz im Sinn der Skulpteure der Renaissancezeit, die sich im Wettstreit mit der Malerei durch die Allansichtigkeit der Skulptur hervortaten.

Weisch no? 2011/2020
Hinter der Spiegelwand erwartet uns ein mit Einmachgläsern übersäter Tisch. In den Gläsern hat der Künstler Stofftiere in Brennsprit und Wasser eingelegt. Sie wirken starr, zusammengepresst, ihrer einst lieblichen Weichheit entledigt. Auch dies auf den ersten Blick ein für Roman ungewohntes Werk. Tatsächlich ist es eine Wiederaufnahme seiner ersten Arbeit an der Schule für Gestaltung von 2011. Sie trägt den Titel "Weisch no?" und steht symbolisch für die konservierten Erinnerungen, von denen man sich manchmal nur schwer trennen kann. Die schiere Dichte der Gläser steht für das Gefühl von Ballast, von dem sich der Künstler zu entrümpeln suchte. So fand beispielsweise zu Beginn seines künstlerischen Schaffens noch jede im Atelier entstandene Sache Eingang in sein Werkverzeichnis. Heute tut sie dies nur noch, wenn Sie im Rahmen eines offiziellen Anlasses auch wirklich umgesetzt worden ist. Alles andere fungiert als Experiment und Gedankenspiel oder Idee, die fotografiert, dokumentiert und in den Erfahrungsrucksack gelegt wird, bis Ort und Zeit dafür reif sind.

Die Rauminstallation dient dem Künstler somit als physisches Experimentierfeld, aber auch als kritische Selbstbefragung in Bezug auf sein Schaffen, seine Komfortzone und Entwicklungsmöglichkeiten. Sie ist aber auch eine Chance, sich als Betrachterinnen und Betrachter selbst zu befragen. Auch wir bringen unseren Rucksack an Seh- und Lebenserfahrungen mit. Welche Assoziationen verknüpfen wir ganz persönlich mit dieser Arbeit, was nehmen wir als Erinnerung mit, wie werden wir gesehen und wie schätzen wir selbst unseren performativen Auftritt auf der Bühne des Lebens ein?

John Montagu der Neunte und Zehnte, 2020
Im Obergeschoss geht es nun um die konkrete Darlegung technischer und konzeptueller Fragestellungen. So wird der Raum gleich zu Beginn von zwei grossen Zwillingsskulpturen – einmal liegend, einmal stehend – versperrt. Sie zählen zu der seit 2017 fingierenden John Montagu-Serie. Ihrem Namensgeber – dem Erfinder des Sandwiches – gemäss, bilden sie aus Schaltafeln und Backsteinen zusammengezurrte, schichtige Strukturen. Die Art der Schichtung, ob regelmässig, in sich verdreht oder als Fächer, entwickelt sich als fortlaufender Prozess. Indem sie an keine architektonischen Bedingungen geknüpft sind, liefern sie dem Künstler eine Antwort auf die Frage: was kann ich zeigen, wenn kein spezifischer Raum zu Verfügung steht?

Bitte hängen lassen (Extended Version), 2020
Den gegenteiligen Fall schildert die Wandarbeit, die sich über zwei Räume hinweg zieht. Mass und Ausrichtung hängen von der Raumkonzeption ab. Gleich lange Schnurschlaufen hängen in rythmischem Abstand nebeneinander. In diese eingehängt wurden Dachlatten und Kanthölzer. Mit dem Abschreiten der Reihe nehmen die Ausmasse der Hölzer zu und die Objekte werde immer weiter in die Höhe gezogen. Die überschaubare, schlichte Ästhetik der seriellen Objekte funktioniert im Kontext von Romans temporärem, grosszügigem, Werkverständnis wie ein ironisches Augenzwinkern. An einer der bestgelegensten Wände des Kunstraums platziert, erscheinen sie als hübsche, auf einen Verkauf ausgelegte Exponate. Diese Annahme wird aber durch den Titel 'Bitte hängen lassen (Extended Version)' sogleich karrikiert.

Den Höhlenwolf vor Augen, 2020
Die experimentellste und offenste Form mit dem Raum umzugehen, demonstriert das Werk Den Höhlenwolf vor Augen (2020). Es ist eine Arbeit, die technisch im Atelier initiiert worden ist und hier ein improvisiertes Eigenleben annimmt. Geschichtete Dachlatten wuchern wie beim Turmbau zu Babel wild und schräg in den Raum hinaus, schaffen Raum, nehmen Raum ein. Die Skulptur wird zur Architektur, gibt Ein- Auf- und Durchblicke frei – genauso wie man dies damals dem Berg- und Höhlenmaler Caspar Wolf (1735 – 1783) attestierte. Diesen Meister, der auch "Höhlenwolf" genannt wurde, hatte Roman – wie der Titel verrät – beim Werkprozess offenbar vor Augen.

Mit seiner Ausstellung Wohin des Weges, Sonnenkönig? lädt uns Roman Sonderegger zu seiner eigenen Standortbestimmung ein. Dabei breitet er erprobte Werkformationen aus, die wie eine Perlenkette auseinander hervorgegangen sind. Doch zeigt er uns auch neue, mögliche Seitengassen auf. Dann etwa, wenn er zu Einmachgläsern und Stofftieren greift oder an kulissenhaften Scheinarchitekturen zimmert. Dabei bleibt er seiner Werksprache treu, schlägt den Bogen zwischen physisch schweren Skulpturen, formaler Reduktion und gleichsam humorvollen, geistreichen Inhalten, die bis zur Wahl der Werktitel durchklingen.

Unternehmen Sie nichts eigenmächtig, denn das könnte beiden nur schaden, 2020
Doch wer weiss so genau, was die nächsten Jahre sein wird. Denn der Weg entsteht im Gehen. Und wer weiss, wann Roman Sonderegger die nächste Idee ereilen wird. Im Atelier, auf dem Fahrrad oder etwa beim Lesen der Kurzgeschichten von H.P. Lovecraft? Daraus stammt nämlich die Titelzeile des letzten Objekts dieser Ausstellung. Diese lautet: "Unternehmen Sie nichts eigenmächtig, denn das könnte beiden nur schaden."(2020). Dabei handelt es sich um einen aus Iragna Gneis und Zurrgurte komponierten, etwas ungewöhnlichen Schlussstein. Über einer ebenso ungewöhnlichen Pforte etwas waghalsig platziert, wurde hierfür das passende Örtchen gefunden. Ein ganz besonders Stilles wohlgemerkt.

Und mit diesen Worten lass ich es nun still werden und schicke sie mit ihrem Rucksack, vielleicht nach meiner Rede noch um ein paar Anregungen mehr bestückt, auf einen genüsslichen Weg durch die Ausstellung.

Eröffnungsrede von Julia Schallberger